Der große Revival-Schwindel in der O2 World
Samstag, 3. Dezember 2011 16:01 - Von Michael Pilz
Wie das Festival "Back To The 80’s" in der Berliner O2 World ein angeblich allgegenwärtiges Jahrzehnt sucht.
Nik Kershaw sieht nicht wie Nik Kershaw aus. Er ähnelt eher dem späten Reinhard Mey. Sein Haar ist kurz und ohne Schwung gefönt, der Bart wächst grau aus seinem Kinn. Auf den Plakaten für das Festival „Back To The 80’s“ trägt er eine Lehrerbrille, auf der Bühne eine Rockgitarre. „Wouldn’t It Be Good“ singt er, ein unvergessenes Lied von 1984, von Nik Kershaw. Das Problem des Abends ist nicht, dass auch Helden altern. Sondern dass die Schau auf der Behauptung gründet, die gefeierte Epoche sei allgegenwärtig. Sobald Fußballer Frisuren pflegen wie Atompilze, die Leute ihre Hosen in die Strümpfe stecken und zwei Synthesizer gleichzeitig zu hören sind, werden die Achtziger wieder erfreut begrüßt. Seit das Jahrzehnt vorüber ist, wird unablässig sein Revival ausgerufen. Davon wird einem ganz schwindlig.
ABC treten in der Berliner O2 World auf die Bühne. Martin Fry, der Sänger, war ein Vorbild früher für die Gymnasiasten mit den Krokodilen auf den Hemden und den breiten Sakkoschultern. Heute tritt er auf im dunkelblauen Bankeranzug. Fry erinnert an den frühen Roland Kaiser. Selbstverständlich stehen zwei der Musiker an Keyboards, einer bläst das Saxofon, die Bühne leuchtet in Magenta und Türkis, und ABC spielen „The Look Of Love“. Das Künstliche war in den Achtzigern Programm. Im Popperstadl von 2011 sorgen die Schlüsselreize nur für die nostalgische Kulisse. Wer ein Rockkonzert der Siebziger besucht, sieht Gäste in gewagten Glockenhosen. Bei Gitarrengruppen aus den Neunzigern sehen die Gäste aus wie Holzfäller. In der O2 World tanzt man sich im Saal die 80-er Jahre von der Seele, aber nicht mit frischer Dauerwelle und in auffälligen Farben. Man trägt, was man heute so nach Feierabend trägt. Und statt Gin Tonic trinkt man Bier aus Rucksäcken.
Fünf Bands sind aus den 80’s angereist. Die Umbaupausen überbrückt Jessica Witte-Winter vom Berliner Spreeradio. Sie hat sich kostümiert mit steingewaschenen Jeans und goldenen Westernstiefeln und erklärt: „Im Nachhinein betrachtet war es cool und lustig. Wir fanden das sexy damals.“ Alle schütteln amüsiert die Köpfe über ihre Modesünden in der Jugend.
Dann legt DJ Nick auf, Wunschmusik, die von Duran Duran bis Guns N’Roses reicht und zeigt, dass es „the 80’s“ gar nicht gab. Es war das Zeitalter, als die Kultur zerfiel in Parallelkulturen. Manche saßen in gestrickten Pullis und in Endzeitstimmung vor Atomkraftwerken. Andere tanzten für die Konjunktur zu ABC und Alphaville. Und wenn die Achtziger im Alltag jetzt tatsächlich wieder da sein sollten, dann im Unbehagen an der Welt und weniger im neobürgerlichen Schick.
Selbst Alphaville sind mittlerweile eine Rockband, und „Big In Japan“ hört sich wie ein Protestsong an. Ihr Sänger Marian Gold hat tätowierte Schultern und geschorenes Haar. „Forever Young“ hat sich als Prophezeiung selbst erfüllt, es wird von Rappern aus Amerika gesungen, von Bushido und von Karel Gott. Kein 50-Jähriger empfindet sich als alt. Aber er weiß, dass seine Jugend in einem Jahrzehnt stattfand, dessen Ästhetik niemandem mehr zuzumuten ist. Wer möchte noch in Sakkos wohnen? Wer im Neonlicht? Wer will Musik, die klingt wie aus der Dose? Die Band Level 42 tritt nicht mehr als Disco-Live-Band auf, sie bollern durch die Halle wie das Funkorchester, das sie immer sein wollten.
Auch Tony Hadley hat sich endgültig von seiner alten Band befreit, von Spandau Ballet. Hadley tänzelt rotwangig herbei im grauen Anzug und mit einem Weißweinglas. Er singt so inbrünstig wie es die kühlen Achtziger ihm nie gestattet hätten „True“ und „Gold“. Bevor er „Through the Barricades“ anstimmt, sagt Tony Hadley: „Nun eine Ballade aus der Zeit, als Menschen noch geraucht haben und Feuerzeuge bei sich hatten.“ Glimmstäbe und Handys flammen auf im Saal. Dann kommen sie zu ihm, Nik Kershaw, Martin Fry und alle anderen, für „Santa Claus Is Coming To Town“. Das Weihnachtslied erlebt alljährlich sein Revival, im Advent.(www.morgenpost.de)
Für immer jung
BERLIN
Schwitzendes Pathos einer goldenen Pop-Dekade: Eindrücke von der „Back to the 80s“-Party in der O2 World, wo Alphaville, Nik Kershaw, ABC, Level 42 und Tony Hadley von Spandau Ballet auftraten.
Wir sind drin! In der O2-World! Von außen ein Raumschiff, von innen ein Sarg! Lasst uns untergehen! Ab in die achtziger Jahre! Das Motto der Retroparty lautet „Back to the 80s!“ Zum Tanz bitten Nik Kershaw, ABC, Alphaville, Level 42 und Tony Hadley, die Stimme von Spandau Ballet. Die Halle ist schütter besetzt, die oberen Ränge verhüllt, etwa 7000 Zeitreisende wollen den zuckrigen Romantic- Pop schlürfen. Eine dralle Moderatorin in hautengen Jeans spricht mit uns, als seien wir Kleinkinder: „Ich bin stolz auf euch, das klappt richtig gut mit dem Applaus!“ Ach wirklich?
Ich sitze zunächst im Ehrenbereich, ein anderes Wort für leblose Zone.
Nik Kershaw spielt aber auch zu traurig auf. Man merkt, dass er lieber Studiomusiker ist. Neben mir sitzt eine reglose Familie. Sind die in den Achtzigern eingesperrt? Kershaw singt „The Riddle“, seinen größten Hit. Wouldn’t it be good if we could wish ourselves away? Ich sag „Ja!“, verlasse die Ränge und gehe direkt in den Innenbereich. Dann, nach fünf Songs, geht auch schon das Licht an. Umbaupause. Ein DJ, der angeblich in Neuseeland ein Star ist, spielt derweil Hits der Achtziger. Die Frauen, sie sind heute Abend in der Mehrzahl, holen Sekt oder Bier, die Männer blicken auf ihre Smartphones. Das Smartphone! Es killt den Augenblick! Entweder fungiert es als mobiles Büro oder als Schatzkästchen und Erlebnisschatulle, mit dem man die Stars und Momente einfängt.
Klick! Licht aus, Spot an! Martin Fry, der Kopf und die Stimme von ABC betritt die Bühne. Ein Herr in seinen Fünfzigern. Im grauen Anzug. Hinterhaupt kahl. Mit „The Lexikon of Love“, produziert von Trevor Horn, gelang ABC 1982 ein auch heute noch funkelnd schönes, unsterbliches Pop-Album. Welterfolg! Fry zeigt, wie es gehen kann, das Überleben. Mit Würde! Professionell! Gut bei Stimme! Augenzwinkern! Kristalliner Sound! Mit „The Look of Love“ kommt es zum kleinen Pop-Orgasmus! When your world ist full of strange arrangements! Das ist Pop-Noblesse! Danke! Und Pause! Fühle mich für Augenblicke wie verstorben.
Das ist eine Party, auf der immer einer das Licht anmacht, wenn wir uns gerade ... Wir, die Retrojünger, sind ohnehin ekstasescheu, selbstkontrolliert. Aber wir wollen auch tanzen! Vergnügungstüchtig! Verdrossenheit kommt auf. Die Menschen trinken Bier und lächeln nicht. Alle sind frisch geduscht, wirken wie neu eingekleidet, Haar- und Hautsorgfalt. Und dann Alphaville. Der Leadsänger Marian Gold, letzter Mohikaner der Band, gibt alles. Ehrliche Haut, schwitzt das Pathos der goldenen Pop-Dekade. Hat noch Mumm, Biss, will was. Alphaville gehen mit ihrem Songmaterial am respektlosesten um. Spielen sogar einen neuen Song! Der Sound ist nicht gut, aber die leben. Die Bassistin knallt ihren Kopf gegen Luftwände. Und dann die Hymne, unser Vergänglichkeitsblues, unser kleiner Gottesdienst: „Forever young“.
Zwei Frauen, Mitte vierzig, eben noch hüftbewegt, stehen jetzt still, kameradschaftlich umschlungen. Feuerzeuge hoch! Ja, wir gehen unter! It’s so hard to get old without a cause. Forever young, I want to be for ever young! Das erste und einzige Mal an diesem Abend altmodische „Zugabe!“- Rufe. Das Schlachtfeld des Alters liegt vor uns. Und die nächste Umbaupause. Am Bier festhalten. Jetzt knallt der entfesselte Daumen von Mark King auf die Saiten und wir wissen, dass Level 42 aufspielen. Hab sie nie gemocht. Der leidlich brutale Bass konnte nie die Seichtheit der Songs verbergen. Bass-Despotismus! Einige halten sich die Ohren zu. Level 42 sind die lautesten. Plank, Plank, Plank! Immerhin tanzen jetzt einige. Ja, wir sind alle mit Handbremse und Airbag unterwegs. Es ist eine Ü-40-Party! Viele Singles halten Ausschau nach dem nächsten Lebensabschnittsbegleiter. Wandelnde Bierstationen ziehen durch die Menge, oben ein tanzendes Wimpelchen am 12-Liter-Fässchen.
Jetzt betritt der letzte Seelenbetanker die Bühne, Tony Hadley, Frontman der Gruppe Spandau Ballet, der Band, der wir Balladen wie „True“, „Gold“ oder „Through the Barricades“ verdanken. Ohne diese Monster-Schmusekätzchen kommt keine Achtziger-Jahre-Party aus. This is the sound of my soul. Tony, auch er im Anzug, hat immer noch Präsenz und eine tolle Stimme. Lacht sich halb tot. Singt „Somebody told me“ von The Killers, später „Somebody to love“ von Queen. Ja, ein bisschen Party-Stimmung. Aus! Schluss! Und dann noch „Santa Claus is coming into town“. Alle im Chor. Nur Nick Kershaw fehlt. Ich stelle mir vor, er sitzt tief im Keller unter der Arena und weint. Oder er telefoniert mit seinen Kindern. Wie auch immer. Wir flüchten. Husch, husch, heimwärts! (www.tagesspiegel.de)