ABC galten als eine der wichtigsten Bands der 80er, und die Tatsache, dass sie eher das Gegenteil eines typischen Underground-Fanzinethemas waren, machte ein Interview für mich umso reizvoller.

 

Martin Fry und Mark White traten damals in einer Fernsehsendung namens „Hollymünd“ in Köln auf, und es wäre gelogen, diese Show als erträglicheres Pendant zum „ZDF-Fernsehgarten“ zu bezeichnen. Nachdem der Vertreter der „Spex“ sein Interview um viele Minuten überzog, musste ich mir mein Interview mit einem freien Journalisten des Kölner „Prinz“ teilen, was gelinde gesagt kein besonderes Vergnügen darstellte. Man hatte sich nach ca. zehn Minuten gerade mit der Situation arrangiert, da kam auch schon der Pressevertreter der EMI, um zu verkünden, dass sich Martin Fry nun aber ganz schnell auf seinen Auftritt vorzubereiten habe. Dem konnte natürlich auch der ABC-Sänger nicht widersprechen, und so schritten wir gemeinsam hinter die Bühne. Dort erklärte mir Fry, dass er meine Fragen als sehr „durchdacht“ empfunden und das Gespräch gern fortgesetzt hätte. Worte, die von einem jungen Hobbyjournalisten wie mir natürlich dankbar registriert wurden.

 

Wieder in Berlin angekommen, setzte ich mich also sofort mit dem Management von ABC in Verbindung und erkundigte mich nach weiteren TV-Auftritten in Deutschland. Wenige Wochen später war es dann soweit: ABC kamen nach Berlin. Der Manager gab mir damals den Ratschlag, ich solle ihn abends im Hotel anrufen, man werde dann alles Weitere arrangieren. Natürlich dachte ich überhaupt nicht daran, irgendetwas dem Zufall zu überlassen und machte mich an dem Abend ohne vorherigen Anruf auf den Weg ins Hotel Interconti. Gegen 23 Uhr traten ABC dann endlich in die Vorhalle, wo ich Martin Fry sofort mit meiner Bitte um eine Fortsetzung meines Interviews konfrontierte. Auch dieses Mal gab Fry wieder den perfekten englischen Gentleman und willigte trotz seiner augenscheinlichen Müdigkeit ein, sich noch für eine halbe Stunde mit mir an die Bar zu setzen. Das Interview konnte nach viel Mühen doch noch in die zweite Runde gehen:

 

 

 

 

Zumindest in einigen deutschen Magazinen begannen viele Besprechungen von „Abracadabra“ mit einem Verweis auf „The Lexicon Of Love“. Wie würdest du das bewerten?

 

Martin: Es stört mich nicht, dass „The Lexicon Of Love“ die LP ist, mit der uns die Leute zuerst in Verbindung bringen, schließlich ist sie der Grundstein für alles, was wir danach gemacht haben. Unser Debütalbum hat seiner Zeit ja auch zweifellos einen Stempel aufgedrückt. Das war damals ziemlich ungewöhnlich, denn in unseren Anfangstagen wurde Pop noch als schmutziges Wort verstanden. Heute dagegen ist dasselbe Wort zum Oberbegriff für alles von Kim Appleby bis zu R.E.M. geworden.

 

„The Lexicon Of Love“ wurde von Trevor Horn produziert, der als ziemlich dominanter Produzent gilt. Angenommen, eine junge Band würde dich heute fragen, ob sie ihr Debütalbum von ihm produzieren lassen soll, welchen Rat würdest du ihr geben?

 

Martin: Ich würde ihr dazu definitiv anraten. Trevor Horn ist ein Visionär und längst nicht so dominant, wie man ihn sich vielleicht vorstellt; es ist eher das Gegenteil der Fall. Er ist einfach nur an Qualität interessiert, und ich finde auch seine neueren Produktionen wie die Platten von Seal und 808 State hervorragend. Als wir mit ihm im Studio waren, war das mehr eine natürliche Zusammenarbeit, weil beide Seiten dasselbe wollten. Trevor raucht eine Menge Gras und sieht Musik sehr bildlich. Für ihn ist das Produzieren einer Platte so, als würde er einen Film drehen. Im Grunde wird seine gesamte Arbeit als Produzent davon bestimmt.

 

Eure zweite LP „Beauty Stab“ hat zuerst große Ratlosigkeit ausgelöst. Den Leuten wurde erst nach einer ziemlich langen Zeit bewusst, dass es eigentlich die richtige LP zum richtigen Zeitpunkt war.

 

Martin: Das sehe ich auch so. Die Platte hat mit Sicherheit in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen, dass es uns heute noch gibt. „Beauty Stab“ war natürlich ein enormer Kontrast zu seinem Vorgänger „The Lexicon Of Love“. Das Album hat anfangs sicher viele Leute verwirrt, sie konnten keinen Sinn darin sehen. Viele wollten die ganze Orchester-Romantik unbedingt noch einmal hören und hätten mir am liebsten eine goldene Jacke angezogen, während wir künstlerisch ganz andere Dinge vorhatten. Wir wollten ein raues, unfertig klingendes Album machen, das so konzipiert sein sollte wie ein Scorsese-Film, gleichzeitig aber die romantische und sentimentale Seite von Spielberg einfängt. Als wir damals in unsere Heimatstadt Sheffield zurückkamen, nachdem wir mit „The Lexicon Of Love“ fast um die ganze Welt gereist sind, standen wir schnell wieder auf dem Boden der Tatsachen. Wir waren mit einem Mal wieder in dieser englischen Industriestadt, und das hat uns zuerst ziemlich depressiv gemacht. Das war mehr oder weniger der Haupteindruck, unter dem dann später „Beauty Stab“ entstand.

 

Zwei Jahre später habt ihr die Band mit „How To Be A Zillionaire“ als Comic-Strip präsentiert. Wie kam es zu dem Image-Wechsel?

 

Martin: Wir haben in den letzten zehn Jahren ja eine Menge geklaut und auf unserem Weg auch viele Stile und musikalische Wurzeln wieder verworfen. Genauso hat sich die Haltung der britischen Presse uns gegenüber mit jeder neuen Platte verändert. „How To Be A Zillionaire“ wurde anfangs durch die Bank verrissen, heute ziehen es die Leute als Klassiker heran. In dieser Phase präsentierten wir die Band ja auf eine ziemlich abstrakte, distanzierte Art und Weise. Wir wollten eine Disney-Band sein, so nach dem Motto: „Der Zirkus kommt in die Stadt.“ Ein solches Band-Image ist sicher eher selten, aber Teile davon kann man derzeit immerhin bei Deee-Lite finden. Ich finde es wirklich sehr schön, dass sie mit „Groove Is In The Heart“ heute so erfolgreich sind. Ich halte das auch für vollkommen legitim, da es keinerlei Copyright für eine gute Idee gibt. Schließlich sind auch wir Diebe, die sich die besten Sachen zusammenklauen.

 

Wenn ich dich richtig verstanden habe, dann magst du die Idee des überzogenen Musikerbildes also auch heute noch.

 

Martin: Mit Sicherheit. Dafür mag ich sogar die New Kids On The Block. Leute wie Sly Stone, David Bowie und Roxy Music waren darin früher ganz groß, fast schon zügellos. In den meisten Fällen mag ich das sehr, selbst wenn es total schwachsinnig sein sollte. Ich finde es ziemlich schade, dass es Persönlichkeiten wie diese heute kaum mehr gibt. Ich jedenfalls habe die Charismatiker in der Popmusik immer eindeutig favorisiert.

 

1987 habt ihr mit „When Smokey Sings“ einen Song veröffentlicht, der Smokey Robinson gewidmet war. Hat sich Robinson nach dieser Hommage denn wenigstens mal bei euch gemeldet?

 

Martin: Ja, er hat uns sogar ins Motown-Gebäude in Los Angeles eingeladen. Der Song hat ihn sehr gefreut, und in seinen Augen sind wir eine ziemlich zeitgenössische Gruppe. Vor unserem Treffen hat er mir bereits einen auf Motown-Papier handgeschriebenen Brief geschickt. Der Mann hat einfach Klasse. Zusammen mit ihm haben wir dann sogar Geschichte in Amerika geschrieben. Es war das erste Mal, dass eine Originalaufnahme eines Sängers und eine Tribut-Platte an denselben Musiker gleichzeitig in den amerikanischen Top Five auftauchten. Ich hatte damals einfach den Wunsch, ihm diesen Song zu widmen. Es ist darüber hinaus auch noch ein Tribut an die Kraft von Motown gewesen, an die Kraft der Musik, die es schafft, dir Freude zu geben, dich zu stimulieren und aufzubauen.

 

Als die fünfte ABC-LP „Up“ erschien, tat sich ja so gut wie gar nichts. Was meinst du, warum diese Platte so unbemerkt blieb?

 

Martin: Das ganze Drumherum war damals schon nicht gerade günstig. Es stand ja bereits vorher fest, dass „Up“ die letzte reguläre LP für unsere alte Plattenfirma sein sollte, und deshalb hatten die Leute dort einfach kein Interesse daran, das Album zu promoten. Normalerweise bekommt man von der Company auch immer einige Freiexemplare seiner jeweiligen Veröffentlichungen. Ich dagegen musste damals in einen Plattenladen gehen, um mir meine eigene LP zu kaufen. All diese Dinge haben sicher etwas damit zu tun, dass diese Platte nicht sehr viel Beachtung fand. Wir bedauern aber dennoch nichts. Das ist eine LP, auf die wir wirklich stolz sind. Eigentlich gilt das für alle Platten, die wir veröffentlicht haben.

 

Eure neue LP „Abracadabra“ mag ich sehr, obwohl ihr damit nicht gerade sehr große Risiken eingegangen seid.

 

Martin: Ich glaube, je mehr Platten du aufnimmst, desto kleiner wird das Risiko. Du lernst mit jedem Album mehr über deinen Stil und deine Persönlichkeit. Als unsere Compilation „Absolutely“ erschien, habe ich mir zum ersten Mal seit langem wieder unsere frühen Stücke angehört und dabei festgestellt, dass alle Songs irgendwie einen gemeinsamen Nenner haben. In der Vergangenheit waren wir schon ziemlich schizophren. Wir wollten sowohl visuell als auch musikalisch herumexperimentieren, wollten Platten machen, die sich voneinander unterscheiden und uns keinen Selbstzitaten hingeben. Wenn man aber ein paar Platten aufgenommen hat, weiß man ziemlich genau über seine Stärken und Schwächen Bescheid. Man wird sich vor allem seiner Stärken immer sicherer.

 

Du sagtest eben, dass alle eure Platten miteinander verbunden sind. Genau diese Eigenschaft hat Mark in einem Interview schon einmal bei Roxy Music sehr lobend hervorgehoben. Demnach war das doch bei euch durchaus beabsichtigt, oder?

 

Martin: Ja, das war es sicher. Meiner Meinung nach zeichneten sich Roxy Music vor allem dadurch aus, dass sie nicht nur Musik gemacht haben, sondern sich auch an Filmen, Mode und Literatur anlehnten. All das fand sich in der Musik wieder, und das sollte auch bei ABC so sein. Roxy Music hatten ja ein enormes Faible für Schönheit, und wenn man sich ihre Platten anhörte, konnte man in ihre Welt eintreten. Die beste Musik ist so. Ich denke, Roxy Music waren eine der innovativsten Gruppen überhaupt, sie haben vieles zuerst gemacht. Sie waren nicht nur für uns wichtig, sondern auch für viele andere Bands, die sich in den 80er Jahren gründeten.

 

Was hältst du für das größte Missverständnis in Zusammenhang mit ABC?

 

Martin: Manchmal denken die Leute, dass wir uns selber beweihräuchern wollen, weil wir statt einer guten Idee halt 25 gute Ideen haben. Dabei wollen wir aus unseren Sachen nur das Maximale herausholen. Wir versuchen alles, was wir haben, in der Musik unterzubringen. Es macht auch nichts, wenn sich mal eine unserer Platten nicht so gut verkauft. Hauptsache ist, dass sie zeigt, wo wir gerade stehen. Die Platten sollen einfach nur das ausdrücken, was in unseren Köpfen und Herzen vorgeht. Ich meine, Elvis-Costello-Songs mögen zwar prima Kreuzworträtsel sein, aber ich bevorzuge nun einmal emotionalere Songs. Ich finde, wenn du einen Song schreibst, dann solltest du ihn so schreiben, wie wirklich nur du ihn schreiben kannst.

 

Ich muss trotzdem noch einmal auf die Frage nach den Missverständnissen zurückkommen. Trifft es nicht auch zu, dass euch manche Leute für eingebildete Yuppies halten? Dabei habt ihr mit „Vanity Kills“ längst eine Antwort darauf gegeben…

 

Martin: Ja, und auch mit „15 Storey Halo“, wo es um Leute geht, deren Egos größer sind als Wolkenkratzer. Wir sind bestimmt recht selbstbewusst bei dem, was wir machen, jedoch nie arrogant oder yuppiehaft.

 

Ich habe das Gefühl, dass auch eine Menge Humor in ABC steckt.

 

Martin: Ja, in allem, was wir tun. Und natürlich auch Liebe und Sorgfalt.

 

Trotzdem scheinen, zumindest was den Humor angeht, das noch nicht viele Leute mitbekommen zu haben. Was meinst du, woran das liegt?

 

Martin: Ich weiß nicht. Vielleicht weil einige Aspekte an unseren Platten ziemlich kompliziert sind. Nicht, dass sie sich akademisch anhören sollten, aber Popmusik wie die von Madonna ist zweifellos sehr viel einfacher als unsere. Sie ist zwar brillant darin, ihre Musik zu präsentieren, doch bei uns spielt sich das schon auf einigen Ebenen mehr ab. Über den ganzen Tag verteilt, geht man ja auch durch die verschiedensten Emotionen. Wenn du aufstehst, kannst du dich für 15 Minuten ernst fühlen, danach fröhlich, und dann verliebt. Der Mensch hat viel zu viele Seiten, als dass jemand sagen könnte, die Welt sei so und so, Punkt. Solche Leute unterliegen einer großen Täuschung. Ich finde es auch bedrückend, wenn Leute Platten machen, die zu fast jeder Zeit hätten veröffentlicht werden können. Musik sollte schon ein bisschen von dem reflektieren, was gerade in der Luft liegt. Deshalb bringen wir in unsere Songs auch so viele verschiedene Dinge ein. Es soll schließlich keine Komödie um jeden Preis sein, nicht so wie „Laurel and Hardy“. Ich denke, man muss die Welt einfach von den verschiedensten Seiten betrachten, um sie zu verstehen und in einem Stück Musik einzufangen. Ich bin zwar kein großartiger Sänger wie Luther Vandross oder Pavarotti, aber ich glaube, ich kann zumindest einige Charaktere in den Songs unterbringen.

 

Bist du das selber oder spielst du manchmal auch eine Rolle?

 

Martin: Nachdem ich nun zehn Jahre in einer Band bin und Platten gemacht habe, ist das kein Konzept, sondern mein Leben. Diese Dinge sind unter meiner Haut, das kann ich nicht einfach an der Garderobe abgeben.

 

Ihr wurdet ja immer ganz gerne als Band des guten Geschmacks charakterisiert. Wo liegen denn für dich die Grenzen des guten Geschmacks?

 

Martin: Das ist wirklich sehr schwer zu beantworten. Wenn Leute von gutem Geschmack reden, dann meinen sie ja meistens das, was die obere Klasse darunter versteht. Das ist schon eine sehr förmliche Sichtweise, denn guter Geschmack lässt sich einfach nicht so leicht definieren. Jede Kultur hat ihre eigene Vorstellung davon. Aber okay, wenn man uns mit Metallica oder Queensryche vergleicht… Also Mark und ich sind sicher sehr kosmopolitisch, das stimmt wohl. Andererseits hat doch jeder etwas Glamour in sich. Ich denke, das hat ja eigentlich auch nur etwas damit zu tun, wie man das Leben betrachtet.

 

Zum Schluss noch zwei persönliche Fragen: Würdest du dich als Träumer bezeichnen?

 

Martin: Ja, das bin ich tatsächlich. Ich gebe mich sehr oft meinen Fantasien und Tagträumen hin. Das tat ich schon, als ich noch ein Kind war. Damals habe ich zwar auch Fußball gespielt, aber die meiste Zeit war ich am Tagträumen. Ich habe festgestellt, dass ich Jahre meines Lebens mit Tagträumen verbracht habe, weil ich so vollkommen in der Musik verloren war. Ich finde, Träume sind einfach notwendig. Wenn man denkt, dass man alles erreicht hat, dann ist es an der Zeit, dem Planeten auf Wiedersehen zu sagen.

 

In einem Interview hast du dich einmal als bescheiden und glücklich bezeichnet. Ist bei dir die eine Eigenschaft die Voraussetzung für die andere?

 

Martin: Wahrscheinlich schon. Das meiste meiner Motivation entsteht ja aus dieser Bescheidenheit, aus meinem Glauben daran, dass ich ein Niemand bin, der eine Menge zu beweisen hat. Manchmal kommt es mir dabei sogar ein bisschen entgegen, dass nicht alle unsere Platten so erfolgreich waren. Ich glaube, es würde mich eher erschrecken, wenn sich unsere Alben generell acht Millionen mal verkauft hätten. Unter solchen Bedingungen zu arbeiten, wäre für mich vermutlich viel schwieriger gewesen. Ein Fehler von mir ist aber auch, dass ich mich hin und wieder zu sehr herunterziehe. Ich vergesse oft, wie privilegiert ich bin, Nummer-Eins-Hits gehabt zu haben. Andere Leute wären bereit, nur dafür zu leben. Manchmal ist jedoch das Einzige, woran ich denken kann, die Tatsache, dass einige unserer Platten eben nicht erfolgreich waren. Inzwischen gestehe ich mir allerdings ein, dass soweit doch eigentlich alles ganz gut läuft. Unsere Plattenfirma finanziert was wir tun, und ich habe immer noch Millionen von Ideen. Ich meine, in England tun sich die Leute ja ähnlich wie in Deutschland ziemlich schwer damit, ihre Gefühle auszudrücken. Ich dagegen habe durch die Musik die Gelegenheit, mehr Emotionen zu zeigen, als ich das vielleicht sonst tun würde. Deshalb ist es mir eine Menge wert, mein Leben mit Musik zu verbringen. Das ist wohl das Beste, was mir passieren konnte.