09.08.1982

 

 

Popmusik für die Star-Wars-Generation

 

Seit Wochen führt die Debütanten-Band "ABC" aus Sheffield Großbritanniens Pop-Hitlisten an: Mit bombastisch arrangierten Songs wurde das Album "The Lexicon Of Love" auf Anhieb zum Sommer-Bestseller. Die "ABC"-Klangräusche sind ein Höhepunkt des Trends zu glatter, in Phantasie-Welten entrückter Popmusik.

 

Die Musik fängt fast wie in der Oper an: Crescendierend säuseln Streicher aus dem Nichts hervor, Blechbläser fahren dramatisch mit Pomp und Pathos dazwischen. Aber dann geht auch schon gleich die Post ab im schwarzen Funk-Rhythmus, und in drei bis fünf Minuten, der Spieldauer einer Single-Schallplatte entsprechend, ist erzählt, wozu in Bayreuth oder Salzburg Stunden benötigt werden.

 

Vor einer wuchtigen Wand aus vielfarbigen Klängen trägt der Sänger herzzerreißende Pop-Arien vor: Mal schmeichelnd, mal schmalzig, mal entsagungsreich bebend und dann wieder rauh und ausdrucksvoll singt Martin Fry, der neue britische Glamour-Popstar, von gebrochenen und klopfenden Herzen, von Eifersucht und Treulosigkeit.

 

Kaum eine andere Pop-Band beackert zur Zeit so intensiv, so elegant, so glatt und in ähnlich glanzvoller Sound-Verpackung das weite Feld der Liebe wie die Newcomer-Gruppe "ABC" aus Sheffield und ihr singender Frontmann Fry. Seit die Band, die nicht nur im Alphabet gleich nach Abba kommt, sich 1980 formiert hat, ist ihr kurzer Weg an die Spitze der britischen Hitparaden mit Superlativen gepflastert.

 

Das Debüt-Album des Quartetts, Titel: "The Lexicon Of Love", fand innerhalb eines Monats mehr als 200 000 Käufer im Vereinigten Königreich. Nicht nur die Teenager und die Disco-Jugend sind von den einschmeichelnden, geschniegelten "ABC"-Popsongs betört, auch die Kritik geriet ins Schwärmen wie vor einer Offenbarung.

 

Als der Kritiker des Londoner Szene-Blatts "Time Out" das musikalische Liebes-Lexikon von "ABC" abhörte, fühlte er sich "in eine exquisite und erfrischend kultivierte nächtliche Romanze davonschwimmen". Der "Guardian" bescheinigte "ABC" ein "cleveres Rezept", und der Londoner "New Musical Express" begrüßte das "ABC"-Debüt sogar als "eines der größten Pop-Alben, die je gemacht wurden".

 

Von Beginn an hatten "ABC" und ihr Sprecher Fry keinen Hehl daraus gemacht, daß sie nichts anderes ansteuerten, als "perfekte Pop-Hits" herzustellen, leicht konsumierbare Musikprodukte für den schnellen Verschleiß. Am Anfang stand die "Idee der brillanten, aber nach drei Monaten vergessenen Pop-Single, die so dauerhaft ist, daß sie nach fünf Jahren immer noch so gut klingt wie am ersten Tag", erläutert Mark White, der Gitarrist der Band, das "ABC"-Konzept.

 

Das clever gefertigte und nun auch wie süchtig vom britischen Publikum verbrauchte "ABC"-Pop-Produkt bildet einen Höhepunkt der britischen Nach-Punk-Ära, die vor zwei Jahren begann, als Londoner Trendsetter sich aus den damals modischen Müllklamotten schälten, sich als "neue Romantiker" in edle Dandy-Gewänder hüllten und in den exklusiven neuen Nachtclubs in Pose warfen.

 

Der stil- und selbstbewußte Teil der englischen Jugend hatte die Tanzflächen des neu pulsierenden Club-Nachtlebens in Pfauengehege verwandelt. Narzißtische Poseure tanzten sich den Frust über die miserable Lage auf Maggies Farm aus dem Leib - zunächst zum monotonen Hämmern elektronischer Schlagzeug-Maschinen, dann auch zum scharfen Knallen des Funk-Beats amerikanischer Schwarzer.

 

Und die tonangebende Popmusik wurde nun geliefert von jungen Herren, die nur im feinsten Tuch vors Publikum traten. Ihre Auftritte betrachteten sie nicht als Konzerte, sondern als events, die fashionablen Cocktail-Partys glichen: Flucht aus einer widerwärtigen Realität in ein schickes, der upper class abgegucktes Traum-Ambiente.

 

In dieses Klima passen die neuen englischen Hit-Bands wie "Spandau Ballet", S.133 "Haircut One Hundred", "Orchestral Manoevres In The Dark", "Depeche Mode" und vor allem "Human League", eine Synthesizer-Band, die wie "ABC" aus Sheffield kommt und sich mit ihrem glatten, konturenlosen Elektro-Pop in Millionen-Auflagen an die Spitze der europäischen und amerikanischen Hitparaden katapultieren konnte - als Vorhut einer neuen britischen Pop-Invasion, der Dimensionen wie zu Beatles-Zeiten prophezeit werden.

 

Aber anders als damals, als die Beatles und Rolling Stones noch die Teenager-Eltern verstörten, sind die Briten-Popper von heute adrette, modebewußte Jünglinge, die sich manierlich benehmen wie gedrillte Sprößlinge der Hocharistokratie.

 

Phil Oakey, der Sänger von "Human League", bekommt Ekelgefühle, wenn er an das "ganze kranke Rock'n'Roll-Ding" denkt. Daß die "Human League" hoch über den Niederungen einer schmuddeligen Subkultur stehen, signalisiert das Plattencover ihrer Bestseller-LP "Dare". Es ist das graphische Plagiat des Titel-Layouts der Modezeitschrift "Vogue".

 

Völlig abhanden gekommen ist dieser neuen Musiker-Generation die Lust an der Provokation, an rebellischen Attitüden. Den Buchhalter-Blick immer starr aufs Bankkonto und den Markt gerichtet, befolgen sie in vollendeter geschäftsmäßiger Artigkeit die Wünsche der Plattenindustrie und ihrer Marketing-Abteilungen.

 

So ist eine Popmusik ohne Ecken und Kanten, ohne die rauhe Oberfläche des Rock'n'Roll entstanden. Weil sie auf Elemente aus der Swing- und Sinatra-Ära zurückgreift, gerät sie auch zum Nervenbalsam für Erwachsene, die Musik nur als sanftes Hintergrundgeräusch schätzen.

 

Diesen neuen, hochkommerziellen britischen Popmusik-Trend treibt nun die Band "ABC" mit produktionstechnischen Kraftakten, raffinierten Studio-Tüfteleien und bravouröser großorchestraler Arrangierkunst auf die Spitze. Ihre künstlichen Mini-Popsymphonien haben den Realitätsgehalt überschäumend choreographierter Hollywood-Musicals, sie sind bunte Bonbons für die Star-Wars-Generation.

 

Für die Platteneinspielung ihres "Lexicon Of Love" hatten "ABC" einen Popmusik-Wunderknaben verpflichtet, den Producer Trevor Horn, 33, eine Bond-Street-Figur mit Broker-Face, der in letzter Zeit mit zuckrigem Schlager-Pop Hits in Serie in seinem Studio herstellte und nun als neues Genie der Knöpfe und Regler gepriesen wird.

 

Als Horn seine Zusammenarbeit mit den "ABC"-Musikern begann, war er von dem Professionalismus und der Cleverness der um die 20 Jahre alten Neulinge überrascht. "Sie haben gute Manieren, und sie sind sehr höflich, was ich schätze. Ich mag die Art, wie sie auf die Leute Rücksicht nehmen, für die sie Platten machen", freut sich Horn.

 

Diese verbindliche Rücksichtnahme geht für "ABC" so weit, daß ihre monumentalen Klangtableaus fast jeden Musikgeschmack bedienen. Mit sattem Streichersirup und dem Crooner-Schmalz in Martin Frys Stimme würde die Band gewiß auch bei der "Grand Prix Eurovision"-Schnulziade eine gute Figur S.134 machen. Hitzige Percussion-Passagen und der Funk-Beat passen in die augenblickliche Tanzbegeisterung. Pink Floyd nachempfundene Sound-Versatzstücke bieten dem gesetzteren kiffenden Rockpublikum ein paar Nostalgie-Kicks. Und in den schillernden Klangteppich eingewebte Piano-Improvisationen und schneidende Bläser-Riffs sorgen manchmal sogar für Jazz-Schärfe.

 

Im Unterschied zu den faden Maschinenklängen von "Human League" und den anderen britischen Synthesizer-Fummlern gibt es bei "ABC" nun auf einmal wieder Töne ganz "normaler" konventioneller Instrumente zu hören. Es erklingen richtige Geigen und Schlagzeug, und von Harfe, Cembalo, Kastagnetten und Glockenspiel kommt allerhand akustischer Zierat.

 

"Wenn man Platten macht, kann man seine Phantasien ausleben. Ich erfand eine komplette Fantasy-Welt, ich baute sie und arrangierte sie", beschreibt Horn seine Arbeit am "ABC"-Liebeslexikon. Er hatte als Teil des Duos "The Buggles" mit dem Synthesizer-Song "Video Killed The Radio Star" 1979 seinen ersten Welthit fabriziert und dann der Band "Yes" als Sänger und Bassist zur Verfügung gestanden, was die dahinsiechende Siebziger-Jahre-Band allerdings nicht vor dem verdienten Ende bewahren konnte.

 

Horn und "ABC" offenbaren in der Verknüpfung sehr verschiedenartiger Stilelemente eine schlitzohrige Genialität, die auf handwerklichem Können und einem breiten musikalischen Fundament beruht.

 

Fast scheint es, und "ABC" sind ein Beleg dafür, als sei die Popmusik an ihre Grenzen gestoßen. Weil neue Stile und Formen nicht in Sicht sind, haben vor allem solche Musiker Oberwasser, die vorhandene Strömungen am geschicktesten zur neuen Mischung bringen. Auch deshalb kann kaum verblüffen, daß die smarte Truppe aus Sheffield unverhohlen ihre kommerziellen Absichten kundtut und keine künstlerisch hochfliegenden oder gar avantgardistischen Ambitionen vortäuscht. Denn ihr Ziel ist klar umrissen: mit perfekter Ausübung des Jobs so viel Geld wie möglich zu verdienen.

 

Weil das ganz große Geld aber nur auf dem internationalen Markt einzukassieren ist, haben "ABC" frühzeitig mit einer globalen Verkaufsstrategie begonnen. Der nichts und alles bedeutende Name der Band gehört ins ausgefeilte Konzept.

 

Dabei ist es den Popmusik-Schneidern nur recht, wenn sie wie Ketchup oder Waschpulver in den Handel kommen. Der Name "ABC", weiß Martin Fry, "ist international. In allen Ländern Europas wird man verstehen, was ABC bedeutet. Es ist sauber und einfach, groß und mild - ein Rahmen, in den alles paßt."