ABC wandelten auf dem Popmoden-Laufsteg mit der Sicherheit von genialen Dilettanten, die ihre nostalgischen Sehnsüchte nach Glamour und Stil selbstironisch kaschieren konnten. Martin Fry (voc), am 9. März 1958 in Manchester geboren, Steven Singleton (sax), Mark White (g, kb), am 1. April 1961 in Sheffield geboren, hatten in ihrer Heimatstadt Sheffield als Synthesizer-Band Vice Versa agiert, bevor sie 1980 mit dem Drummer David Palmer "den äußersten Karriereschritt" wagten: "perfekte Pop-Singles zu kreieren" (Fry). Tears Are Not Enough (1981) war ein erster Versuch, "Glacéhandschuh-Violinen mit Frack-und-Zylinder-Disco zu einer romantischen Pose zu vereinen, die an Mondlicht und zerbrochenes Kristall denken lässt" ("Stereo Review").

 

Wie Bryan Ferry waren die Arbeiterjungs aus dem englischen Norden auf distanzierte Weise von technicolorbunten Aufsteigerträumen in der britischen Klassengesellschaft besessen und blätterten in dem von Trevor Horn süffig produzierten Lexicon Of Love (1982) einen Hochglanzkatalog ihrer Wunschwelt auf - schwärmerischer als Soft Cell, weniger elektronisch als Human League oder Heaven 17. Fry überraschte auf der brillant konzipierten LP als "ausdrucksstarker Vokalist, der clevere Texte in einem Genre schreiben kann, das dafür eigentlich nicht bekannt ist" ("Billboard"); Beispiel: "If you gave me a pound for all the moments I missed, and I got dancing lessons for all the lips I shoulda kissed, I'd be a millionaire, I'd be Fred Astaire" (Valentine's Day). Auf späteren Alben hielt das Ensemble "seine musikalische Völlerei nicht unter Kontrolle" ("Rolling Stone" über Beauty Stab, 1983) oder rezitierte "vergiftete Poesie für Kaffeehaus-Poseure" ("Village Voice" über How To Be A Zillionaire, 1985).

 

1987 fanden ABC als Duo Fry/White zur alten Eleganz zurück, nachdem Fry eine schwere Krankheit überwunden hatte. Die unverhohlenen Bewunderer des elegischen Soul-Romanciers Smokey Robinson widmeten dem Meister der sentimentalen Beziehungsskizzen ein Loblied (When Smokey Sings) und machten auf der dazugehörigen LP Alphabet City "First Class-Popmusik für alle Gelegenheiten, die nichts eigentlich Neues bringt, das Alte jedoch in höchster Perfektion" ("Musik Szene"). Dabei gerierten sie sich allerdings mitunter "wie Salonmusiker, die gerne Soul Boys sein möchten" ("Village Voice"). Für "Rolling Stone" klangen die Platten "wie Roxy Music ohne Ferrys gequälte Romantik". Rhetorisch fragte anlässlich der Veröffentlichung von Abracadabra (1991): "Immer noch im Schatten von The Lexicon Of Love?", um sich die Frage selbst zu beantworten: "Das Album leidet unter dem Vergleich mit früherem Ruhm und mit der Erinnerung an die Originale, an denen sich zu viele Songs zu sehr orientieren."

 

Obwohl Martin Fry das Album Skyscraping (1997) zusammen mit Glenn Gregory von Heaven 17 produzierte und eine ironische Mixtur von Glam Rock und Motown vorlegte, kam sein Comeback-Versuch nicht aus den Startlöchern. "Eine unvollendete Karriere", bedauerte . Nicht anders "Stereoplay": "Der einstige Götterbote begreift sich selbst zwar als Auslaufmodell, reagiert darauf aber charmant und hoch professionell." Da es in der ABC-Diskographie an Live-Dokumenten mangelte, brachte Fry 1999 eine Aufzeichnung aus der glorreichen Frühphase auf den Markt: The Lexicon Of Live. Als er 2001 mit dem Paket "Night of the Proms" auf Tournee ging, veröffentlichte Mercury das Greatest Hits-Album Look Of Love, laut Oldies-Magazin "Good Times" "eine gute Ergänzung zu Lexicon Of Love", das Kritiker Uwe Meyer noch einmal als "ein monumentales Popalbum" klassifizierte. Immerhin, zwei ABC-Songs auf Look Of Love (2001) waren neu. Zusammen mit Tony Hadley (voc), Ex-Spandau Ballet, hielt Fry den ABC-Songkatalog im Konzertsaal am Leben und werkelte an dessen Erweiterung. Für 2007 wurde ein Studioalbum mit David Palmer unter dem Arbeitstitel Traffic avisiert.

 

(Text gekürzt - Die vollständige Biographie finden Sie im "Rock-Lexikon") Entnommen aus: Rock-Lexikon Bd. 1+2, hgg. von: Siegfried Schmidt-Joos und Wolf Kampmann unter Mitarbeit von Barry Graves und Bernward Halbscheffel,

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